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  Bahá'u'lláh Brief an den Sohn des Wolfes
  Brief an den Sohn des Wolfes
 
 
 
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Der 'Brief an den Sohn des Wolfes' ist das letzte große Werk von Bahá'u'lláh, ein Sendschreiben adressiert an Shaykh Muhammad-Taqiy-i-Najafi, einen prominenten muslimischen Geistlichen, der die Bahá'ís verfolgt hatte. Es wurde um 1891 im Herrenhaus von Bahjí enthüllt und von Shoghi Effendi ins Englische übersetzt.

Bahá'u'lláh nannte den Vater Shaykh Muhammad Báqir (1819-1883), den Wolf wegen seiner Verantwortung für die Hinrichtung der Nahrí-Brüder in Isfahan 1879. Der Vater und der Sohn waren bekannt für ihre Verfolgung der Bahá'ís.

Einführung

»Ich wandelte im Lande Ṭá (Ṭihrán) – dem Aufgangsort der Zeichen deines Herrn; siehe, da hörte Ich das Klagelied der Kanzeln und ihr Bittgebet zu Gott – gepriesen und verherrlicht sei Er. Laut schrien sie und sprachen: ›O Gott der Welt und Herr der Völker! Du siehst unseren Zustand und was die Grausamkeit Deiner Diener über uns brachte.‹«

Wir, die drei Milliarden Menschen, die die Erde bevölkern, leben in einer Zeit, in der nicht nur die Kanzeln aller Religionen, sondern alle Dinge uns verdammen müssen mit der Stimme, die nach dem Qur’án Gott ihnen allen verliehen hat: »Gott, der allen Dingen Stimme gab, hat auch uns eine Stimme gegeben …«. Wir haben in den letzten fünfzig Jahren etwa 45 Millionen Menschen umgebracht, Menschen, die wir nicht einmal mit Namen kannten. Wir haben den Wesensunterschied verleugnet, der uns über die Tiere hinaushebt, und haben versucht, in deren Welt zu leben – ein Versuch, der so wenig Erfolg haben kann, wie wenn die Tiere Bäume oder die Bäume Steine werden wollten. Wir verbringen unsere Zeit damit, kunstvolle Ausreden für unser Verhalten zusammenzudrechseln, bei denen immer jemand anderes verantwortlich gemacht wird und bei denen immer ein anderer uns retten soll.

Es überrascht keineswegs, dass Bahá’u’lláh, der persische Edelmann, der 1863 Seine geistige Sendung erklärte, an anderer Stelle sagt: »Ihr wandelt auf Meiner Erde, selbstzufrieden und selbstgefällig, und achtet dessen nicht, dass Meine Erde euer überdrüssig ist und alles auf ihr euch meidet.«

Wohl sehnen wir uns nach Glück, aber wenn es uns gebracht wird, weisen wir es zurück. Für den Menschen bedeutet Glück, aus der blinden stofflichen Welt zum bewußten Leben des Geistes emporgehoben zu werden, und dies kann nur durch den Offenbarer Gottes geschehen. Bei Seinem Kommen kämpfen wir gegen Ihn an und widersetzen uns Ihm, ob Er sich nun Moses oder Buddha, Jesus, Muḥammad oder Bahá’u’lláh nennt.

Durch seine Taten beweist der Mensch, dass er Gott und folglich auch sich selbst verloren hat. »Und seid nicht gleich denen«, warnt der Qur’án, »die Gott vergessen, wofür sie Gott ihr eigenes Selbst vergessen ließ.«. Der Mensch ist verwirrt und irrt in einer Wildnis umher. Er muss den Sinn des Weltalls wiederfinden, und dieser Sinn ist Gott, wie Er von Seinen Manifestationen dargestellt wird; dann wird er sein eigenes Ich wiederentdecken, das eine Spiegelung dieses Sinnes ist; dann wird er auch einen Lebensweg finden und verfolgen, der der Wirklichkeit entspricht.

In diesem Buch wird von einem Siebzehnjährigen, namens Badí‘, erzählt. Er war, was wir heute einen Halbstarken nennen, und sein Vater hatte viel Kummer mit ihm. Da ließ ihn Bahá’u’lláh, der Gefangene, zu sich in die Festung ‘Akká kommen. In der Folge ihrer Unterredung nahm der Junge Bahá’u’lláhs Tablet an den Sháh mit und brachte dieses, ganz allein und zu Fuß, heim nach Persien. Nach viermonatiger Reise erreichte er die Hauptstadt; er fastete, betete und wartete auf einem Felsblock, bis er den Sháh und sein Gefolge nordwärts in die Gebirgsdörfer zur Jagd reiten sah. Er näherte sich ihnen und rief auf Arabisch: »O König! Ich komme zu dir aus Ṣabá mit wichtiger Kunde.«. Das Tablet wurde dem Jungen entrissen und den Priestern ausgehändigt; diese lasen es und empfahlen, den Knaben zu töten. Die Henker brannten ihn drei Tage lang mit heißen Eisen; eine Photographie, die ihn auf der Folter zeigt, ist noch vorhanden. Dann schlugen sie mit einem Gewehrkolben seinen Kopf zu Brei und warfen seinen Leichnam in eine Grube. 

Bahá’u’lláh schrieb in einem Tablet an den Vater des Jungen, Ḥájí ‘Abdu’l-Majíd, der später in Khurásán selbst den Märtyrertod erlitt: »Wähnst du, dass er tot sei? Nein, bei dem Offenbarer der Zeichen! Durch ihn wogt der Geist des Lebens freudevoll in den Herzen des Weltalls.« Im gleichen Tablet sagt Bahá’u’lláh, dass Badí‘ »den Geist der Macht und der Kraft atmete«, dass er neu erschaffen wurde, dass er lächelte und, »hätten Wir es ihm geboten, er hätte alle im Himmel und auf Erden überwunden«; Er schrieb, dass »ihn Freude übermannt habe« und dass er seinem Tod entgegenging »mit Macht und Hoheit, vorwärtsschreitend mit solcher Kraft, dass die höchsten Heerscharen und die Bewohner der Städte der Namen hingerissen waren«.

Das Wesentliche ist, dass Badí‘ neuerschaffen oder, in der Sprache der Bibel, wiedergeboren wurde. Er schaute die Wahrheit, und für sie starb er den Opfertod. Heute sind die, welche an Bahá’u’lláh glauben, nur selten aufgerufen, sich unter die mehr als 20.000 Märtyrer einzureihen, die im Heroischen Zeitalter Seiner Sendung ihr Leben hingaben oder, wie das vorliegende Buch es ausdrückt, »die kostbare Krone des Lebens von sich warfen, Dem zuliebe, der der unvergleichliche Freund ist«. Aber sie sind gehalten, ihre eigenen Wünsche und Abneigungen außer acht zu lassen, ihr Leben in Zucht und Ordnung zu führen und Siege über ihr eigenes Selbst zu erringen – ein Vorgehen, das langwieriger, weniger aufsehenerregend und vielleicht sogar schmerzlicher ist als das Märtyrertum.

Nur durch ein solches Vorgehen kann unser Planet sinnvoll bewohnbar gemacht werden: nur dadurch, dass Menschen, von Liebe getrieben, freiwillig damit beginnen, in einer Weise zu handeln, die der wahren menschlichen Natur würdig ist. Bahá’u’lláh schreibt in den Verborgenen Worten: »Ich habe dich reich erschaffen, warum machst du dich selbst arm? Edel erschuf Ich dich, warum erniedrigst du dich selbst?«

Die denkende Welt nähert sich heute allmählich den Grundlehren, die Bahá’u’lláh (1817–1892) vor mehr als 100 Jahren formuliert hat. Heute kann kein aufgeklärter Geist Bahá’í-Grundsätzen wie diesen ablehnend gegenüberstehen:

• »Die Einheit und Ganzheit der Menschheit«. (Dies ist der wichtigste von allen diesen Grundsätzen; seine Verwirklichung ist das Hauptanliegen des Bahá’í-Glaubens. Die Vereinigung der Menschheit ist nach den Worten Bahá’u’lláhs unausbleiblich und kennzeichnet die letzte Stufe in der Entwicklung des Menschen zu seiner Reife).

• Dienst an der Menschheit als wertvollste aller Bemühungen.

• In der Religion, »dem wichtigsten Werkzeug für die Errichtung von Ordnung in der Welt«, müssen die Kinder in allen Schulen in einer Weise unterwiesen werden, dass kein Fanatismus und keine Vorurteile hervorgerufen werden.

• Alle Religionen sind in ihrem Wesen eins; sie weichen äußerlich nur deshalb voneinander ab, weil sie in verschiedenen Geschichtsepochen erschienen sind und sich demgemäß verschiedenen Gegebenheiten gegenübersahen.

• Die Aussöhnung von Religion und Wissenschaft, die die beiden mächtigsten Kräfte im menschlichen Leben darstellen.

• Allen Menschen muss die beste Erziehung offenstehen.

• Gleiche Entfaltungsmöglichkeiten für beide Geschlechter; die Gleichstellung der Frau wird unmittelbar mit der Frage des Weltfriedens in Verbindung gebracht.

• Das System eines Weltbundesstaates, Beschränkung der nationalen Rüstungen, kollektive Sicherheit.

• Die Einführung einer Welthilfssprache und einer einheitlichen Schrift.

• Arbeit für alle.

Bahá’u’lláh erklärt, dass Gerechtigkeit »das meistgeliebte aller Dinge« ist und unweigerlich verwirklicht wird; dass freie, ungezwungene Beratung »der Vermittler von Verständnis« und die Grundlage Seiner Ordnung ist; dass jedermann verpflichtet ist, Wissen zu erwerben, wobei Er »Künste, Gewerbefleiß und Wissenschaften« lobt; dass Wohlstand, der durch Berufsarbeit erworben wird, des Preises würdig ist; dass Armut verschwinden wird, ebenso wie übermäßiger Reichtum; dass die Vertrauensmänner des »Hauses der Gerechtigkeit« gesetzlich alle Angelegenheiten zu regeln haben, die nicht ausdrücklich in den Bahá’í-Schriften behandelt sind. (Diese übernationale Bahá’í-Körperschaft ist ermächtigt, ihre eigenen Gesetze wieder aufzuheben und das zu tun, was sie für notwendig erachtet, um den Glauben »an der Spitze aller fortschrittlichen Bewegungen« zu halten). Die konstitutionelle Staatsform, die »die Ideale republikanischen Denkens mit der Majestät des Königtums vereint«, wird empfohlen. Der Landwirtschaft wird besondere Beachtung geschenkt. Die Presse wird eigens hervorgehoben, wobei Zeitungen als der »Spiegel der Welt« beschrieben und die für ihren Inhalt Verantwortlichen angewiesen werden, sich freizumachen von »Böswilligkeit, Leidenschaft und Vorurteil, gerecht, redlich gesinnt und gewissenhaft bei ihren Untersuchungen zu sein und in jeder Situation alle Tatsachen genau zu ermitteln«. Weiter bekräftigt Bahá’u’lláh erneut das Verbot aller Religionskriege und der Zerstörung von Büchern. Er verpflichtet Seine Anhänger, der Regierung des Landes zu gehorchen, in dem sie leben, und hebt mit besonderem Lob Gelehrte und Weise hervor, die Er als »Augen« am Körper der Menschheit bezeichnet.

Was die Welt heute noch nicht abzuschätzen vermag, ist die Fähigkeit der von Bahá’u’lláh entworfenen Weltordnung, welche die allumfassende Anerkennung der Einheit Gottes in die Tat, »die Gesellschaft neu zu gestalten«, umsetzt. Die Weltgemeinschaft aller Menschen ist Sein Hauptanliegen. Die Religion hat in der Vergangenheit schon oft gute Einzelmenschen hervorgebracht. Das wichtigste Ziel der Religion Bahá’u’lláhs ist, die gute Gemeinschaft zu schaffen. Seine Verwaltungsordnung bietet, so glauben die Bahá’í, den einzigen befriedigenden Ausgleich zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft, zwischen freiem Willen und Autorität, wobei die Vorrechte beider Seiten ins Gleichgewicht gebracht werden.

Dieses Gleichgewicht muss geschaffen werden, wenn die Menschheit zu einem Zeitalter des Friedens fortschreiten soll. Wir haben erlebt, wie der Diktator-Staat den Einzelmenschen auspreßt, und wir haben gesehen, wie Lynchjustiz ganze Menschengruppen erniedrigt. In allen Zeitaltern wurde diese Tatsache heftig diskutiert. Der Mystiker Rúmí bittet Gott, ihn von seinem freien Willen zu erlösen, einer Last, die, wie er sagt, selbst der Himmel und die Engel zurückgewiesen haben; nur der Mensch habe sie auf sich genommen. Er vergleicht sich mit einem Kamel, dem der Tragkorb den Rücken wundreibt und der einmal auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite herunterhängt. Er bittet darum, dass diese unausgeglichene Last von ihm genommen werde, dass er stattdessen hin und her hüpfen dürfe wie ein Poloball.

Wenn erst einmal Gleichgewicht besteht zwischen Einzelperson und Gesellschaft, werden wir die Gewißheit haben, dass der Mensch in seinen Reifezustand eingetreten ist. Offensichtlich werden beide, Individuum und Gruppe, einiges von dem aufzugeben haben, was sie jetzt besitzen, genauso wie die Nationen einige ihrer gegenwärtigen Souveränitätsrechte zugunsten der Weltgemeinschaft aufgeben werden müssen, aber das wird keine größere Härte bedeuten als das Opfer des Köders beim Angeln.

Es gibt nun eine Weltreligion, die der neuen Welt angemessen ist. Sie hat keinen Priesterstand und nimmt von niemand anderem Zuwendungen entgegen als von ihren eingetragenen Anhängern. Sie hat die Probleme der Nachfolge, der Verwaltung und der Spaltungen gelöst – Faktoren, die die Einheit aller früheren Religionen schon fast bei ihrer Entstehung in der Wurzel zerstört haben. Im vorliegenden Fall bestimmte Bahá’u’lláh, der Begründer, in Seinem schriftlich niedergelegten Bündnis Seinen ältesten Sohn ‘Abdu’l-Bahá zu Seinem autorisierten Nachfolger und zum Erklärer Seiner Offenbarung. ‘Abdu’l-Bahá ernannte in Seinem Willen und Testament Seinen Enkel Shoghi Effendi zum »Hüter« und Ausleger … Die demokratisch gewählten Einrichtungen, … die den Glauben verwalten, wurden ebenfalls in den Schriften des Begründers geschaffen. Die gegenwärtige Aufgabe der Bahá’í auf der ganzen Welt ist zwiefacher Natur: Sie umfaßt sowohl ihre eigene Festigung im Studium der Lehren und in der Verwirklichung der Bahá’í-Lebensführung als auch die Verbreitung, die Darstellung des Glaubens in der Öffentlichkeit, damit er von jedermann selbständig erforscht werden kann. Bahá’í-Gemeinden finden sich heute in weit mehr als 250 Ländern und Gebieten des ganzen Erdballs.

Das Studium der Schriften ist eine lebenslängliche Beschäftigung. Obwohl die Grundsätze des Glaubens leicht verständlich sind, sind seine Lehren unermeßlich. Sie erschließen dem Sucher neue Horizonte in dem Maße, wie sich seine Erfahrung entwickelt. Es trifft nicht im geringsten zu, dass alle Bahá’í Intellektuelle wären – vielmehr gibt es sehr viele Bahá’í-Gemeinden gerade in den einfachsten Dörfern Persiens, Afrikas und Südostasiens –, aber sicherlich wirken die Lehren selbst und das Bemühen, sie der Öffentlichkeit vorzutragen, als ein starker Anreiz, mannigfaches Wissen zu erwerben. ‘Abdu’l-Bahá schreibt: »Die Herrschaft der Könige hat ein Ende …, aber die Oberhoheit der Wissenschaft ist ewig …«, und an anderer Stelle: »Alle Segnungen sind göttlichen Ursprungs, aber keine kann mit der Macht verstandlichen Forschens und Untersuchens verglichen werden; dies ist eine ewige Gabe, die Früchte von unendlicher Köstlichkeit hervorbringt. … Alle anderen Segnungen sind vorübergehender Art; dies ist ein unvergänglicher Besitz.«

Bahá’u’lláh schrieb etwa einhundert Werke. Sie bestehen aus Gesetzen, Grundsätzen und Ermahnungen, aus Warnungen und Prophezeiungen, aus Gebeten und Andachten, aus Kommentaren, Erläuterungen, Abhandlungen und Homilien, aus der Verkündigung Seiner Sendung an Könige, Minister und Geistliche, im Osten wie im Westen, aus Schriften, die eigens an führende Gestalten auf den Gebieten des Geisteslebens, der Politik, der Literatur, der Mystik, des Geschäftslebens und der Fürsorge gerichtet waren. Sein letztes größeres Tablet oder Sendschreiben ist das vorliegende Buch. Es wurde etwa ein Jahr vor Seinem Tode im Jahre 1892 geoffenbart.

Ungefähr drei Monate, nachdem dieser Text abgeschlossen war, brachte Bahá’u’lláh Seinen Wunsch zum Ausdruck, diese Welt zu verlassen. Er lebte damals, nach wie vor als der Verbannte und Gefangene, der Er in den vorangegangenen vierzig Jahren an zahlreichen Orten im ganzen Mittleren Osten war, in dem Landhaus Bahjí außerhalb ‘Akkás. Von dieser Zeit an wurde aus Seinen Bemerkungen deutlich, dass das Ende Seines Erdenlebens bevorstand, obwohl Er dies nicht offen aussprach. Jahre zuvor hatte Er in Seinem Tablet über das Gesicht – das zum Jahrestag Seines prophetischen Vorläufers, des Báb, geoffenbart wurde – beschrieben, wie Ihm die weißgekleidete »strahlende Jungfrau« erschien und Ihn drängte, in Seine »anderen Hoheitsgebiete« zu eilen, Bereiche, »die das Auge des Volkes der Namen noch nie geschaut hat«. Es vergingen noch einige wenige Monate, bis Er nach kurzer Krankheit im fünfundsiebzigsten Jahr Seines Lebens am 29. Mai 1892 starb.

Am selben Tag wurde das bekannte Telegramm an Sulṭán ‘Abdu’l-Ḥamíd gesandt, dessen Gefangener Er gewesen war. Es begann mit den Worten: »Die Sonne Bahás ist untergegangen«. Die Trauernden aus ‘Akká und den Dörfern der Umgebung überfluteten die Felder um das Landhaus Bahjí; viele hervorragende Persönlichkeiten aus den Gemeinschaften der Shí‘iten und Sunníten, der Christen, Juden und Drusen, Dichter, Geistliche und Beamte bis hin nach Damaskus, Aleppo, Beirut und Kairo zollten Ihm schriftlich ihren Ehrentribut; Nabíl, der Chronist des Bahá’í-Glaubens, konnte keinen Trost finden und stürzte sich ins Mittelmeer.

Dieses Buch nimmt demnach einen besonderen Platz in der Rangordnung der Schriften Bahá’u’lláhs ein. Es ist Sein letztes Werk. Es ist außerdem eine Art Blütenlese, und eine besonders wertvolle dazuhin, da die Texte vom Verfasser selbst ausgewählt wurden. Es enthält einige der bekanntesten und charakteristischsten Seiner Schriften sowie Beweise für die Tragweite Seiner Sendung.

In Iṣfahán lebten zwei Brüder, reich begütert und weithin bekannt für ihre Menschenliebe und ihren edlen Charakter. Das Oberhaupt der Priesterschaft, Mír Muḥammad-Ḥusayn, der Geistliche, dessen Aufgabe es war, freitags in der Moschee das Gebet zu singen, schuldete ihnen eine beträchtliche Geldsumme. Um sich dieser Schuld zu entziehen, brandmarkte er die beiden Brüder öffentlich als Anhänger des Báb. Er wußte genau, was dies bedeutete. Ihre schönen Häuser wurden dem Pöbel überlassen, geplündert und zerstört; selbst die Bäume und Blumen in ihren Gärten wurden ausgerissen. Alles, was sie besaßen, wurde ihnen weggenommen. Daraufhin fällte Shaykh Muḥammad-Báqir, den Bahá’u’lláh »Wolf« nennt, das Todesurteil über beide. Der Gouverneur, Prinz Ẓillu’s-Sulṭán, der älteste Sohn des Sháh, bestätigte es. Die Brüder wurden in Ketten gelegt und enthauptet, ihre Leichen auf den großen offenen Platz der Stadt geschleift und dort jeder Schmach ausgesetzt, die der Pöbel sich nur ausdenken konnte. »Auf solche Weise«, schrieb ‘Abdu’l-Bahá, »wurde das Blut dieser beiden Brüder vergossen, dass der christliche Priester von Julfá an jenem Tag laut aufschrie, klagte und weinte.«

Der »Wolf«, den Bahá’u’lláh in Seinem Lawḥ-i-Burhán (Tablet des Beweises) verurteilte und »die letzte Spur des Sonnenlichts auf der Bergesspitze« nannte, erlebte später den unaufhaltsamen Niedergang seines Ansehens; er starb in Elend und peinvoller Gewissensnot. Sein Komplice, Mír Muḥammad-Ḥusayn – Bahá’u’lláh kennzeichnete ihn als die »Schlange« und erklärte, er sei »unendlich viel verworfener als der Unterdrücker von Karbilá« –, wurde aus Iṣfahán ausgestoßen, wanderte von einem Dorf zum andern, erkrankte schließlich und starb an einem Leiden mit so übler Ausdünstung, dass es nicht einmal seine Frau und seine Tochter bei ihm aushalten konnten, um ihn zu pflegen.

Jahre später wurde der Gouverneur, Ẓillu’s-Sulṭán, nach Genf verbannt. Als sich ‘Abdu’l-Bahá 1911 im Parkhotel von Thonon bei Genf aufhielt, kam Ẓillu’s-Sulṭán dorthin. Hippolyte Dreyfus, der bekannte Gelehrte und Reisende, der erste französische Bahá’í, war ihm früher in Persien begegnet; er hatte dort den Prinzen bei einer Jagd in dessen Zelt besucht. Jetzt traf er ihn auf der Terrasse des Hotels wieder. Dreyfus beschrieb diese Begegnung Juliet Thompson, einer Bahá’í, die am nächsten Tag eintraf, und sie hat es in ihrem Tagebuch festgehalten: »Der Meister war ebenfalls auf der Terrasse; Er ging in einiger Entfernung auf und ab. Hippolyte stand unter dem Hoteleingang, als Ẓillu’s-Sulṭán die Treppe heraufkam. Der Prinz ging auf ihn zu und begrüßte ihn, dann schaute er überrascht zum Meister hinüber. ›Wer ist dieser persische Edelmann?‹ fragte er. ›Das ist ‘Abdu’l-Bahá‹, antwortete Hippolyte. Und nun bat Ẓillu’s-Sulṭán ganz bescheiden: ›Führen Sie mich zu Ihm‹. Hippolyte erzählte mir die ganze Geschichte. ›Du hättest den Unmenschen sehen sollen, wie er seine kläglichen Entschuldigungen stammelte! Aber der Meister nahm ihn in die Arme und sagte: »Das gehört alles der Vergangenheit an. Denke nicht mehr daran.«‹«

Die beiden Brüder, die von dem »Wolf« und seinem Komplizen hingerichtet wurden, sind den Bahá’í unter den Namen »König der Märtyrer« und »Geliebter der Märtyrer« bekannt. Sie werden auch als die »strahlenden Zwillingsleuchten« bezeichnet. Sie hießen Mírzá Muḥammad-Ḥasan und Mírzá Muḥammad-Ḥusayn und waren Siyyids, d. h. Abkommen des Propheten Muḥammad.

Das vorliegende Buch ist an den Sohn jenes Mannes gerichtet, der die »strahlenden Zwillingsleuchten« ermordete – an den Sohn des »Wolfes«. Sein Name war Shaykh Muḥammad-Taqíy-i-Najafí. Er war ein muslimischer Geistlicher in Iṣfahán, und er und seine Schüler stießen und traten den Leichnam von Mírzá Ashraf mit Füßen, einem anderen Bahá’í, der 1888 auf Befehl der Mullás, d. h. der Geistlichen jener Stadt, getötet wurde. Er wird in diesem Buch oft mit »Shaykh« angesprochen, mit einem Titel, der einen geistlichen Führer, einen Würdenträger oder Gelehrten kennzeichnet. Auch andere Personen und Gruppen werden in dem Werk angeredet, so das Volk des Bayán, jene Anhänger des Báb, die es versäumten, Bahá’u’lláh anzuerkennen, und damit an die Nachfolger Johannis des Täufers erinnern, die Jesus Christus nicht anerkannten; ferner Hádí, ein Religionsführer, der sich fürchtete, Rang und Stellung zu verlieren, als er ein Schüler des Báb genannt wurde, und der dann jede Ausgabe des Bayán, des großen Werkes des Báb, zu vernichten suchte. Vom »Wolf« selbst ist die Rede in Zitaten aus dem Tablet des Beweises, des weiteren von Königin Viktoria, Napoleon III. und anderen. Obwohl dieses Tablet in erster Linie an den Sohn des Wolfes gerichtet ist, steht dieser keineswegs im Mittelpunkt; Bahá’u’lláh wendet sich vielmehr damit an die ganze Menschheit.

Der Brief an den Sohn des Wolfes ist ein weiterer Beweis – wenn noch mehr Beweise vonnöten scheinen –, dass sich die Gestalt des Offenbarers Gottes von neuem erhoben hat, wie es in der Vergangenheit geschah, dass das Mysterium, welches uns umgibt, erneut durch den Mund eines menschlichen Wesens zu uns sprach, dass die altbekannte Folge – Vorläufer, Offenbarer, Märtyrer, die Errichtung des Glaubens – in unseren Tagen wieder Wirklichkeit geworden ist, dass die Verheißungen früherer Religionen über das Kommen des Tages Gottes schließlich erfüllt wurden. Im Tablet an den Sháh von Persien, dessen Überbringer den Märtyrertod starb, faßt Bahá’u’lláh, die ›Herrlichkeit Gottes‹, Sein Anliegen wie folgt zusammen:

»Dies ist nicht von Mir, sondern von Einem, der allmächtig und allwissend ist. Und Er gebot Mir, Meine Stimme zwischen Erde und Himmel zu erheben, und um dessentwillen befiel Mich, was jedes verständigen Menschen Tränen fließen ließ. Die Gelehrsamkeit der Menschen studierte Ich nicht; ihre Schulen betrat Ich nicht. Frage nach in der Stadt, wo Ich wohnte, und sei dessen versichert, dass Ich nicht zu denen gehöre, die falsch reden. Das hier ist nur ein Blatt, das die Winde des Willens deines Herrn, des Allmächtigen, des Allgepriesenen, bewegt haben. Kann es ruhen, wenn der Sturmwind weht?«

Marzieh Gail
 

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